20110615

Martin Adel: Machbarkeitswahn

13.06.2011 Pfingstmontag
Ökumenischer Gottesdienst St. Paul/St. Heinrich
am Felsenkeller, Burgfarrnbach
Gen 11,1-9 - Machbarkeitswahn

Liebe Gemeinde,

die Kinder haben uns hier mitten im Wald so schön vorgespielt, wie so ein Baum wächst und was er alles zum Wachsen eines Baumes braucht. Doch ich frage sie:
Nehmen wir die Natur um uns herum noch so wahr, als sinnvoll gestaltete Ordnung um uns herum? Die Bienen, die die Bäume bestäuben und nicht nur die Angst vor dem nächsten anaphylaktischen Schock? Die Pollen, die sich übers Land verteilen und Neues pflanzen und nicht das Heuschnupfen-Gespräch und welches Medikament nimmst du und was hilft bei dir? Der Wald: das Ergebnis der Alt-Vorderen, die gepflanzt haben und wir dürfen ernten, im Schatten sitzen?

Nehmen wir die Kreisläufe noch wahr, das fein ausgetüftelte Geflecht – wir nennen es heute Ökosystem - von Sonne, Wind, Regen, Bienen, Vögel … Sommer und Winter, Tag und Nacht, Rhythmen, denen wir schon längst nicht mehr unterworfen sind und dann die Nächte zu Tagen machen, unterstützt durch jede Menge Aufputschmittel und benötigen dann Beruhigungsmittel, um wieder runter zu fahren und schlafen zu können.

Natürlich genießen wir die Errungenschaften der Moderne die Produkte der weltweiten Vernetzung und Kooperation. Fast jeder von uns hat ein Auto – aus Japan, aus Amerika, aus Tschechien, aus …, die Fahrräder werden immer besser, laufen leichter, der Nabendynamo – ein Traum; und manch einer von uns ist vielleicht unterwegs mit einer künstlichen Hüfte, einem neuen Knie, einem Herzschrittmacher …

Wir haben uns befreit aus den Zwängen der Natur – seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Und weil der Mensch so verletzlich und gleichzeitig so kreativ ist, kann er am Nordcap leben, wie auch am Äquator. Er kann sich auf der Erde, im Wasser und in der Luft bewegen. Sogar im luftleeren Raum, im Weltall, kann er noch überleben.

Können wir das zumindest bewundern und schätzen, welche Talente, welche Fähigkeiten wir von Gott anvertraut bekommen haben, wenn wir schon nicht mehr die Bäume, die Vögel, die Bienen um uns herum wahrnehmen, weil wir gar nicht mehr mit Bäumen, Vögeln und Bienen zusammen den Lebensraum teilen, sondern in Häuserschluchten wohnen und uns meistens in künstlichen, synthetischen Welten bewegen.

Die Schatzsucher-Kinder wussten sofort, was sie heute draußen in der Natur spielen würden, doch als ich am Freitag endlich dazu kam, mir den Predigttext für heute anzuschauen, da zuckte ich erst etwas zusammen. Doch dann entwickelte sich ein Bild in mir.

Die Liebe zur Geschöpflichkeit, die elementaren Fragen zum Leben, zum Wachsen, zum Werden und Vergehen, die die Kinder formuliert haben, die sind das eine. Doch unser Erwachsenenleben ist viel komplizierter, viel komplexer. In unserem Inneren, da sehnen wir uns vielleicht noch danach und in der Werbung werden wir permanent darauf angesprochen: die Kuh, die von Hand gemolken wird und die Bäuerin, die das Brot noch selbst in den Holzofen schiebt und die Kaffeebohnen, die jede einzelne liebevoll geröstet werden – Sehnsuchtslügen in einer hochtechnisierten Welt. Wir hätten es vielleicht gerne so, doch die Realität ist eine andere – und deshalb schärft uns der heutige Predigttext den Blick für das, was wir tun und wie wir es tun und wo wir vielleicht etwas verändern sollten. Im ersten Buch Mose im 11 Kapitel lesen wir unter der Überschrift: Der Turmbau zu Babel.

Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. 2 Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. 3 Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. 4 Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.
5 Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. 6 Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. 7 Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. 8 Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. 9 Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut.

Wir könnten nun viele interessante Fragen zu dieser sehr alten, biblischen Erzählung stellen, doch ich will mich auf einen Aspekt beschränken.

Am Anfang ist die gemeinsame Sprache – und wie weit man es mit einer gemeinsamen Verkehrssprache bringen kann, das wissen wir aus eigener Erfahrung. Weltweit forschen und planen Menschen zusammen, teilen sich die Arbeiten und schaffen Gewaltiges. Der Tunnel unter dem Ärmelkanal hindurch nach England, die gemeinsame Raumstation im Weltall …

Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. … 3 Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel.
Aber das ist nur der Anfang. Denn im Tun und in der Freude daran und im Ehrgeiz verliert der Mensch plötzlich das Maß. Es muss noch höher, noch weiter, noch toller werden:
4 Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel
Im selber Machen geht der Blick fürs Ganze verloren. Es geht nicht mehr um Sinn und Zweck und Notwendigkeit und Nutzen, sondern es geht plötzlich nur noch um sie selbst:
und machen wir uns damit einen Namen, damit ICH einen Namen habe und sich die Nachwelt noch an mich erinnert – egal ob als good boy oder als bad man.

Wer hat das höchste Hochhaus stehen? Wer traut sich einen Flughafen mitten im Meer zu planen? Wer baut die gigantischte Stadt mitten in der Wüste? Und wir bemerken die Maßlosigkeiten oft erst, wenn wir den Bogen überspannt haben.

Wie sah das Ruhrgebiet noch in den 60iger Jahren aus. Kein Fisch mehr im Rhein und eine Säuglingssterblichkeit, die trauen wir uns heute gar nicht mehr zu erwähnen.
Es geht um Macht, um Prestige, um Einfluss und Geld – koste es, was es wolle. Die Ehrfurcht vor dem Leben, vor dem Sein, vor der Geschöpflichkeit gerät dabei sehr schnell aus dem Blick. Doch gleichzeitig wird uns in unserer hochkomplexen Welt immer wieder ganz deutlich bewusst, wie verletzlich wird sind: Die Suche nach dem EHEC-Erreger ist da nur ein Beispiel.

Im modernen Machbarkeitswahn wird der Mensch bei aller Freiheit und Unabhängigkeit immer wieder tief verunsichert. Und lebt er herausgelöst aus sozialen Netzwerken und ohne Glauben, verliert er sehr schnell den emotionalen Halt und das seelisch Gleichgewicht. Dann können wir sogar die gleiche Sprache sprechen, doch wir verstehen einander nicht, weil es eben nicht nur um bloße Worte geht, sondern um ein Verstehen im Herzen, ein Mitfühlen – auch ohne Worte - in Liebe und um eine Gemeinschaft, die nicht vom Besitz und Stand abhängt, sondern vom Vertrauen lebt.

Und hier sind wir wieder am Anfang.
Beim Turmbau zu Babel entgrenzt sich der Mensch und erhöht sich über alles, sogar über Gott und will bis in den Himmel bauen, damit er sich selbst einen Namen macht. Doch dieses Streben fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus und es tritt ein, was der Mensch befürchtet hat – Sprachverwirrung, die Zerstreuung über die Erde und daraus wiederum der Kampf zwischen den Völkern.
Mit dem Pfingstereignis durchbricht Gott diese Realität. Als der Heilige Geist ausgegossen wird, verstehen sich die, die es hören können, über alle Sprachbarrieren hinweg, weil es eben ein Verstehen gibt, das mehr als die Sprache braucht, sondern ein Hören mit dem Herzen, geprägt vom Verstehen wollen und befreit von dem Verlangen, dem anderen überlegen sein zu wollen.

Versöhnt in Christus, in dem Gott gleichsam einen neuen Turm vom Himmel auf die Erde baut, bekommen wir die Chance, uns neu miteinander zu verbinden und dabei wird der andere mir zu Bruder und Schwester und die Natur wieder zu einer guten Gabe Gottes, uns anvertraut zur Lebensgrundlage für alle Geschöpfe der Erde. Was für ein Wunder.
Amen