20120206

Martin Adel: Die Befreiung vom Schein

05.02.2012 - Sonntag Septuagesimä
Jeremia 9,22-23

Liebe Gemeinde,

1. Vorwort – Sehnsucht nach Anerkennung
wieder haben wir ein Wort, das sich so gar nicht in unseren Zeitgeist hinein fügen will, als ob wir in der Kirche immer nur Worte gegen die Welt und ihre Lust am Leben zu sagen hätten.
Da lebt unsere mediale Welt von den großen Vorbildern, makellos, in Hochglanz, auf einen Sockel gestellt:
Der Präsident der Vereinigten Staaten Barak Obama, so bald mit dem Friedensnobelpreis markiert / Lady Di / Michael Schumacher / Margot Käsmann, der 'Pop-Star'der evang. Kirche / Karl Theodor zu Guttenberg / Christian Wulff etc.

Und so hoch sie auch gestellt werden und für viele ein Vorbild sind oder waren, so warten die anderen bereits darauf, wo sie dann fallen werden oder wie sie stürzen.
So, wie die mediale Präsenz und Aufmerksam genutzt wird, um ins Rampenlicht zu kommen, so wird sie zum unerbittelichen Fallstrick, wenn der Lack bröckelt oder dann doch mehr Schein als Sein war.

Auf welches Pferd haben wir denn in unserem Leben gesetzt in unserer Sehnsucht nach Anerkennung, nach Bestätigung, nach Wahrgenommen werden, nach einem festen Platz im Leben.

Welchen Herren dienen wir und vielleicht ist es an "Lichtmess" an der Zeit, sich einen anderen Herrn zu suchen.

Denn es geht nicht immer gleich um Ruhm, um Reichtum, um Ehre, um Erfolg – die meisten von uns leben ein ganz normales Leben und doch haben wir unsere Bilder vom Leben, wie es sein sollte und wie es zu sein hätte. Und damit es so passt, nach Außen und nach Innen, dafür tun wir gar manches und im Sog der Erfolgs überspannen wir nicht selten den Bogen und bauen eine Scheinwelt auf – so muss es sein; so muss es bleiben.

Im Konfirmandenunterricht haben wir am vergangen Mittwoch über Masken gesprochen. Masken, die wir tragen, Rollen, die wir spielen und was es braucht, damit wir Masken ablegen – die Antwort einhellig: eine Atmosphäre des Vertrauens. Doch wir finden sie nicht mehr oder trauen IHM nicht, dass da etwas Größeres trägt als der Boden unser eigenen Angst und Vorsicht.

Und so kostet es viel Kraft, diese Bilder aufrecht zu erhalten und den Schein zu wahren, wenn denn unser Leben mit den aufgebauten Bildern nicht mehr übereinstimmt oder nicht mehr übereinstimmen mag.

Die extremen Beispiele sind dann die Menschen, die sich in den Selbstmord stürzen, weil sie das Bild, das sie von sich gezeichnet haben oder gerne gezeichnet hätten, nicht mehr aufrecht erhalten können. Andere ziehen sich zurück aus dem öffentlichen, dem gesellschaftlichen, dem familiären Leben. Und das, was im Großen passiert, geschieht auch im Kleinen hier immer wieder bei uns.

Auf welches Pferd haben wir gesetzt?

2. So möchte ich nicht leben – von der Machbarkeit
Kurz vor Weihnachten erschien ein Zeitungsartikel über den große Rhetorik-Professor Walter Jens – ein Mann, den ich sehr schätze und der als einer der klügsten Köpfe Deutschlands berühmt wurde - mit dem Untertitel: Ein Leben ohne intellektuellen Austausch war für den Tübinger Professor Walter Jens (86) immer unvorstellbar. www.Bild.de: Tübinger Professor Walter Jens (86). Der Vorkämpfer für die aktive Sterbehilfe leidet seit einiger Zeit an schwerer Demenz … er kann durch die Krankheit nicht mehr lesen und kaum noch reden.
Sein Schicksal berührt mich in besonderer Weise und meine Frau und ich reden öfter darüber, weil der Verlust der Sprache, des Denkens, der Selbstbestimmtheit ja so viele von uns ängstigt und ob man denn dann noch Mensch ist und ob man da noch leben möchte.

Die Frau von Walter Jens sorgte in einem Stern-Interview im Jahre 2008 für großes Aufsehen mit ihrem Satz: "Den Mann, den ich liebte, gibt es nicht mehr." Und sie plädierte ganz im Sinne ihres Mannes für die aktive Beendigung eines solchen Leidens. Doch bei mir bliebt die Frage: Was macht unser Leben aus?

Damit Sie mich richtig verstehen: Keiner von uns wünscht sich Demenz oder Alzheimer oder das Liegen im Komma oder eine andere Lebens-Behinderung.
Und doch müssen wir uns fragen lassen, was denn unser Leben ausmacht und wann es zu Fall kommt.

3. Befreiung vom Schein
Unser Predigttext befreit uns förmlich aus all diesen Zwängen und Bildern und lenkt unseren Blick in eine ganz andere Richtung, wenn es im Buch des Propheten Jeremia heißt:
Jer – 9,22f Das rechte Rühmen
22 So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. 23 Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR.


Jeremia fordert eine andere Haltung und einen anderen Umgang mit uns selbst. Und er sagt nichts gegen Reichtum oder Stärke oder Weisheit. Die sind wichtig und wir brauchen sie auch, die Weisen und die Reichen und die Starken. Aber diese Güter sind kein Selbstzweck. Sondern hoffentlich benutzen Sie ihre Fähigkeiten nicht nur für sich, sondern sehen dahinter das Geschenk - das durchaus auch ein Vergängliches ist - und die Aufgabe, Ihre Gabe für das Allgemeinwohl einzusetzen.
Der Prophet fordert eine veränderte Blickrichtung auch von uns, dass wir unseren Gaben und Fähigkeiten und Talenten aus Dankbarkeit einsetzen, so wie es hier heißt:
wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR.

Diese Worte befreien von der Wahrung des Scheins und vor Scheinheiligkeit und Arroganz, weil unser Lebenswerk nicht mehr auf unserem Verdienst und unserer Leistung beruht und der Beurteilung, wann ein Leben lebenswert ist und wann nicht. Sie sind der Schutz vor Überheblichkeit und vor Überlastung.
Bei aller Anstrengung begreifen wir darüber Schritt für Schritt, welche große Gabe Gottes hinter all unserem Können und Vermögen steckt – das Gott geben und nehmen kann und wir es nach seinen Kriterien zu gestalten haben und die heißen: Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit.

4. Bitte nicht totmachen – der Wert des Lebens
Kommen wir am Ende noch einmal zurück zu Walter Jens. Wenn es nach seinem eigenen Willen gegangen wäre, dann wäre er schon längst tot – durch aktive Sterbehilfe. Und so wichtig die Patientenverfügungen auch sind – und hoffentlich haben Sie im Alter auch eine Aufgesetzt, so sehr sind sie auch geleitet von unseren Wünschen und Ängsten, wie das Leben auszusehen hat oder hätte und wir könnten es dann nicht mehr tragen oder ertragen, wenn es anders käme.

Inge Jens, selbst 82 Jahre alt und seit über 60 Jahren mit Walter Jens verheiratet, sagt in dem Interview mit der Deutschen Pressagentur dpa weiter:
"Sein Lebenswille bezieht sich nicht mehr auf sein geistiges Wirken. Er hat sich zu einem biologischen Leben in einem Maße verschoben, wie ich es selbst nicht für möglich gehalten hätte". "Ich weiß genau, und es steht Wort für Wort in unserer Patientenverfügung formuliert, dass mein Mann so, wie er jetzt leben muss, niemals hat leben wollen. Sein Zustand ist schrecklicher als jede Vorstellung, die er sich wahrscheinlich irgendwann einmal ausgemalt hat", erzählt Inge Jens. Trotzdem sei sie sicher, dass er jetzt an seinem Leben hänge und nicht sterben wolle. „Neulich hat er gesagt: 'Nicht totmachen, bitte nicht totmachen.' Ich bin mir nach vielen qualvollen Überlegungen absolut sicher, dass mich mein Mann jetzt nicht um Sterbenshilfe, sondern um Lebenshilfe bittet", sagt Inge Jens. Es gebe noch Momente in seinem Leben, die ihm große Freude bereiteten. Zum Beispiel esse er mit "allergrößtem Vergnügen".

22 So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. 23 Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR.

Amen.