20120625

Martin Adel: Psalm 23 und moderne Psalmen von SAID


Sonntag 17.06.2012 2. Sonntag. n. Trinitatis
„Herr breite deine Arme aus“


Liebe Gemeinde,
es ist wohl der bekanntest Psalm überhaupt, dieser Psalm Davids: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Die Konfirmanden lernen ihn bis heute noch auswendig und die meisten Menschen, die ich besuche können neben dem VU und dem Glaubensbekenntnis auch den Ps 23.

150 Psalmen kennt die Bibel. Lieder und Gedichte aus alter Zeit. Keine Gideonbibel, die in den Hotels auf der ganzen Welt verteilt sind, die nicht auch die Psalmen enthält. In jedem Gottesdienst singen wir mit dem Introitus ein Psalmwort „Sei mir ein starker Fels … - Herr, auf dich traue ich, lass mich nimmermehr zu schanden werden“ (Ps 31) und auch vorhin das zweite Lied: „Nun lob, mein Seel, den Herren“ (Ps 103)
Oder die Lieder und Gesänge aus Taize – Stücke auf den Psalmen wie: Freuet euch im Herrn, freuet euch im Herrn (Ps 33)
Die großen Themen der Psalmen sind:
Gnade (50x) Treue (60x) Hilfe (50x) Himmel (50x), Hören (50x)
Das Bild des Hirten kommt interessanter Weise nur in Psalm 23 und in Psalm 80 vor.

1. Der Mensch vor Gott
Und so beschreiben diese alten Lieder den Menschen vor Gott.
Es sind nicht die großen Geschichtserzählungen von der Sintflut, von Mose, von Abraham oder den Propheten.
Sondern der glaubenden Mensch bringt sein ganzes Leben vor Gott:

Lob; des Einzelnen oder des ganzen Volkes
103 1 Von David.
Lobe den HERRN, meine Seele,
und was in mir ist, seinen heiligen Namen!
2 Lobe den HERRN, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat:


Die Klage
22 2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. 3 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.

Dank für Rettung aus Todesnot
30 2 Ich preise dich, HERR; denn du hast mich aus der Tiefe gezogen und lässest meine Feinde sich nicht über mich freuen. 3 HERR, mein Gott, als ich schrie zu dir, da machtest du mich gesund.

Die Weisheitspsalmen
90 Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. / 2 Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. … 12 Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

Die Wallfahrtspsalmen

104 1 Lobe den HERRN, meine Seele! HERR, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. …. 10 Du lässest Wasser in den Tälern quellen, dass sie zwischen den Bergen dahinfließen, 11 dass alle Tiere des Feldes trinken und das Wild seinen Durst lösche. 12 Darüber sitzen die Vögel des Himmels und singen unter den Zweigen. 13 Du feuchtest die Berge von oben her, du machst das Land voll Früchte, die du schaffest.
14 Du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, dass du Brot aus der Erde hervorbringst, 15 dass der Wein erfreue des Menschen Herz und sein Antlitz schön werde vom Öl und das Brot des Menschen Herz stärke.


Und wir spüren schon, wir müssen gar nicht immer erst eigene Worte finden für unser Empfinden. Da waren bereits andere vor uns, die genauso menschlich empfunden haben, wie wir. Die wesentlichen Dinge des Lebens wie Freude und Klage, Bitte und Dank, Not, Bedrängnis und Rettung werden hier ausgesprochen.
Der Mensch bringt sein Leben vor Gott, seine Empfindungen, seine Gefühle, seine Ängste und Sehnsüchte. Eben das, was uns zum Menschen macht. Das sind die Psalmen. Manchmal im großen Geschichtlichen Rahmen und manchmal ganz persönlich.

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens Willen.
Doch es sind nicht nur die schönen Seiten des Lebens, die hier der Psalmbeter schreibt. Ganze andere, düstere Lebensabschnitte sind zu bewältigen gewesen.
Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, dein Stecken und Stab trösten mich.
Was ich erst die letzten Jahre begriffen habe ist der nächste Vers: Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Da, wo einem ansonsten der Appetit vergeht und es einem vor lauter Sorgen auf den Magen schlägt, weil die Feinde zu groß und die Probleme zu übermächtig sind, da finde ich in Gott die Ruhe für die wesentlichen Dinge meiner Gesundheit und komme wieder zu Kräften.
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

Was mir vielleicht äußerlich versagt bleibt (Anerkennung, Lob, Verständnis, Würde), das wird zur inneren Gewissheit und gibt mir Halt und Kraft und Mut zum Widerstand.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Die Stoßrichtung ist klar, wofür es sich lohn, sich einzusetzen und sein Leben auf´s Spiel zu setzen. Und aus der Kraft des Glaubens, die er dadurch bekommt, dass er im Hause der Herrn, also innerlich in Gottes Nähe und in einem aktiven Austausch mit Gott bleibt, kann er hinaus gehen in die Welt – allem Widerstreit zum Trotz – und für das eintreten, wofür Gott eingetreten ist, wenn es heißt:
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.

Dieser Psalm lebt vom Vertrauen, von der rückhaltlosen Hingab an Gott.

Ganz anders dagegen die modernen Psalmen von dem iranischen Schriftsteller und Dichter SAID, die er im Jahr 2007 geschrieben hat.
Und wir machen damit einen großen Sprung aus biblischer Vorzeit in die Gegenwart.

Doch es sind Psalmen, die der gebürtige Perser verfasst hat. Im Iran geboren, lebt er seit dem Sturz des Schahs auf der Flucht, weil mit Khomeini seine Heimat vom Regen in die Traufe kam. Obwohl er in Deutschland lebt, ist er gewissermaßen staatenlos oder heimatlos? Sowohl geographisch als auch religiös.
Und doch sind es Psalmen geworden, die er schreibt. Die innige Hinwendung zu Gott. Ein Ausdruck des Glaubens. Aber diesmal spricht der moderne Mensch. Er steht anders vor Gott. Und wir merken sofort: Das ist nicht mehr die unbedingte Hingabe voller Vertrauen. Der moderne Mensch ist kritisch, wenn es um Gott geht. Scheu und vorsichtig. Immer auf der Hut, nicht vereinnahmt zu werden. Gezeichnet von großen Enttäuschungen und Verletzungen; als ob er aus seinen Träumen gestürzt wäre.
Skeptisch wirkt er und auch ein bisschen einsam steht er da, im Streben nach seiner Identität und seiner Personalität: ICH. Und gleichzeitig sehnt er sich nach einer tiefen Geborgenheit.
Im Widerstreit zwischen Nähe und Distanz, zwischen Autonomie und Abhängigkeit, zwischen einem sich Fallenlassens und der kritischen oder skeptischen Vorsicht, nicht vereinnahmt und (wieder) verführt und (wieder) enttäuscht zu werden?

Im DENNOCH wendet sich der moderne Mensch an Gott und er traut ihm zu, dass ER der Ort ist, an dem er Heil erfahren kann und seine gebeutelte Seele gesundet.

(I)
herr
stehe zu mir und zu meiner einfalt
die mich zu dir führt
denn ich will die vertraulichkeiten der erde begreifen
sei keine flucht oh herr
aber ein gefährte für kommende wege


(I)
herr

Die Anrede bleibt: Herr. Das hat etwas mit Autorität zu tun und mit glaubender Hingabe. Drunter geht es nicht. Nur im Glauben treten wir vor Gott. Im Zutrauen, dass er es ist: Ein Starker, ein Mächtiger in allen Ohnmächten des Lebens.
Und es kommt der wissende Mensch, der weiß oder zumindest erahnt, wie weit er sich von Gott entfernt hat und sich gleichzeitig bewusst wird, dass ihm all sein Wissen und sein Können nichts bringt, wenn es um die Grundfesten des Lebens geht, der Ort, wo wir sicher sind, auch wenn alles andere unsicher wird.
stehe zu mir und zu meiner einfalt
die mich zu dir führt

Der moderne, der wissende Mensch des 21.ten Jahrhunderts braucht die Einfalt, die ihn wieder zurück führt oder neu hinführt zu Gott.
denn ich will die vertraulichkeiten der erde begreifen
Was könnte das sein, die „Vertraulichkeiten der Erde“ – wie ein Reflex scheint es auf. Irgendetwas hat ihn angerührt, bewegt. Eine Erfahrung mit dem Mitmenschen, eine Betrachtung der Natur die ihn erschaudern lässt, als ob es Gott gäbe. …
Und schon kommt die Angst, die Skepsis auf – die tiefe Verunsicherung, als ob uns der Glaube einlullen könnte vor der harten Realität der Welt. „Opium für´s Volk“ – und dabei haben sie sich selbst zur Religion aufgeschwungen und das Volk mit aller Brutalität und Macht betäubt oder taub gemacht. Das gilt für alle Gewaltregime der Welt, ob die Kommunisten oder die Gottesstaaten oder …
sei keine flucht oh herr
Sei keine Flucht in ein weltfremdes Traumgebilde, ein erhabenes Gefühl, eine Weltflucht, die sich enttäuscht zurück gezogen hat vor der Komplexität der Welt und untätig wartet, bis sich die Welt von selbst verändert hin zum Guten.
Sei keine Flucht …
aber ein gefährte für kommende wege
Hören wir es hier nicht, dieser: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich doch kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“ – im Kampf und auf dem Weg für eine gottgefällige Welt.

Der zweite Psalm lebt aus der gleichen Hingabe. Und gleichzeitig behält er die vorsichtige Distanz, in dem Erahnen, dass es doch noch eine Wahrheit Gottes gibt. Aber nicht so rigide und hart, wie sie von den all zu Sicheren verkündigt und behauptet wird. Eher wie Elia, der in der Stille und einem Wind-Hauch die Stimme Gottes hört.

(II)
herr
breite deine arme aus
und bewahre uns
vor dem heer deiner beschützer

Und wir hören die grundlegende Kritik an jeglichem religiösen Fundamentalismus heraus. Das „Heer deiner Beschützer“ – es sind die Bewahrer, die allzu Überzeugten, die genau Wissen, was richtig ist und was falsch und die sich mit wehenden Gottesfahnen schützend vor die vermeintliche Wahrheit Gottes stellen und rufen: Das ist so und das war so und das bleibt so. Und das sind nicht nur die Gottesmänner, sondern auch die anderen Eiferer, berufene und selbstberufene, die in der Menge der Anhänger die Bestätigung ihrer Wahrheit sehen. Und deshalb die Bitte:
stehe den wanderern bei
die die gabe des hörens nicht verloren haben
und horche in ihre einsamkeit

Zärtlicher kann man es kaum mehr ausdrücken, voller Sehnsucht und Hingabe – der wandernde Mensch, unentschieden hineingeworfen in die Fülle der Erkenntnisse und Wahrheiten, der aber im Position- und Stellung beziehen auch die Angst hat, sich falsch festzulegen oder das Wesentliche zu verpassen.

Und im Rückblick auf die, die nicht wie er, SAID, als Emigrant oder Immigrant sich heimatlos zwischen den Welten befindet, nimmt er die mit in seine Bitte an Gott hinein, die DA geblieben sind, im Vertrauten, im Gewohnten – ohne dass sie sich schon mit allem einverstanden erklärt hätten.

stehe auch denen bei die bleiben und auf dich warten

Mit diesen Worten sind wir am Ende unseres Weges. Der dritte Psalm von SAID, den sie mit abgedruckt finden, wird dann beim Sommerkonzert am nächsten Samstag um 19.30 Uhr hier bei uns erstmals zum Vortrag kommen.
Zwischen vorbehaltloser Hingabe und skeptischer Annäherung haben wir uns bewegt. Der moderne Mensch steht nicht mehr ungebrochen vor Gott. Und wir müssen unseren Weg selber zu Gott finden oder uns von den „Vertraulichkeiten der Erde“ ansprechen lassen, um wieder „Herr“ sagen zu können.
Amen

Der Psalm (III) von SAID lautet:
herr
bedränge mich nicht
mit deinen gebeten und geboten
verbleibe stumm in rufweite
und kämpfe mit mir gegen die müde vernunft
und für eine schönheit
die auch diese grenze überschreitet