20110921

Werner Otto Sirch: Drinnen und draußen

18.09.2011 - 13. Sonntag nach Trinitatis
Predigt Markus 3,31-35
Abschiedspredigt


31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.
33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?
34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.


Liebe Gemeindeglieder,
liebe Gäste und Freunde,
liebe Verwandte,
liebe Schwestern und Brüder in Christus,

die einen sind drinnen und die anderen sind draußen. So ist das oft, nicht nur in unserer Geschichte. Einige Verse vor unserem Text erzählt die Bibel, dass Jesus mit seinen Jüngern in ein Haus ging, um mit ihnen zu essen. Das Volk aber, begierig ihn zu hören, drängt auch in das Haus. Sie wollen mehr mit ihm erleben, hören was er zu sagen hat. Es war sensationell, geradezu aufregend, was in den letzten Tagen geschehen war, wovon sie Zeugen geworden waren: Die Heilung eines Gelähmten, der Streit mit Schriftgelehrten um die Frage, ob Jesus ein Gotteslästerer ist, weil er sich anmaßt Sünden zu vergeben. „Sünden vergeben kann nur Gott allein“, sagen die Schriftgelehrten. Immer deutlicher wurde die Frage: Wer ist er, dieser Jesus? Maßt er sich etwas Göttliches an oder wer ist er ...? Er, der mit Zöllnern und Sündern isst. Menschen am Sabbat, dem von Gott geheiligten Tag, heilt. In den Augen der geistlichen Autoritäten war das nicht nur skandalös, sondern geradezu gotteslästerlich.

Es hat sich rumgesprochen. Man will es sehen, miterleben, neue Hoffnung haben. Auch aus der Umgebung kommen viele, die Jesus sehen und von ihm geheilt werden wollen. Aus ist es mit stiller Beschaulichkeit. Es geht drunter und drüber. Und Jesus heilt, die von Krankheiten geplagt sind, aber auch die, die über ihn herfallen, um ihn zu berühren. Ungewöhnliches passiert, für manchen ist vielleicht auch erschreckend: Wenn unreine Geister Jesus sehen, fallen sie mit Geschrei vor ihm nieder: „Du bist Gottes Sohn!“ Es war richtig was los, aufregend, mit diesem Wanderprediger aus Galiläa. Und immer wieder die Frage: Wer ist er? Ist er der, auf den sie schon so lange sehnsüchtig gewartet haben? Der Befreier Israels, ist er der Messias, oder einer der obersten Teufel, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer es behaupteten?

Maria, der Mutter Jesu und seinen Brüdern war das, was über Jesus berichtet wurde, mehr als unangenehm. Es bereitet ihnen Sorgen. Er musste wohl seinen Verstand verloren haben. Sofort wollten sie zu ihm, ihn nach Hause holen, auf ihn aufpassen, ihn vor sich selbst schützen.

Das Volk war nicht aufzuhalten und drängte weiter in das Haus, in dem Jesus mit seinen Jüngern essen wollte. Das Gedränge war so groß, dass kein Platz war um zu essen. Die Menschen wollten dort sein, wo Jesus war. Zu seinen Füßen sitzen, im Kreis um ihn herum auf dem Fußboden, um von ihm die gute Nachricht zu hören. Sie wollten hören, ihn, der gekommen ist, um allen Menschen Heil zu verkündigen, das Ende der Entfremdung von Gott. Sie wollen ihn hören, von ihm angerührt werden, suchten Heilung ihres Lebens.

Wo gehen wir hin, um angerührt zu werden, um Heilung unseres Lebens zu finden? Welche Wege schlagen wir ein, wo suchen wir?

Es sind aber auch einige drinnen, die rausgehen, angewidert und wütend: Schriftgelehrte und Pharisäer. Für sie ist Jesus mit dem Teufel im Bund.

Die einen sind drinnen und die anderen sind draußen. Die drinnen sind sitzen bei Jesus, hören ihm zu, sind in seiner Nähe, lassen sich berühren, anrühren – von Jesus, dem Gottessohn. Sie sind da, sind auf dem Weg der Heilung ihres Lebens. Es ist heute nicht anders. Wer da ist, im Gottesdienst, dort wo Gottes Lob erklingt, wo gebetet und Gottes Wort gehört wird, der geht verändert weg. Er wird berührt, angerührt, ist auf dem Weg der Heilung seines Lebens.

Nichts verlangt Jesus von denen, die im Kreis um ihn sitzen. Sie müssen nichts tun, keine frommen Leistungen erbringen. Sie sind da! Einfach nur da! Sitzen zu seinen Füßen! Jesus sieht sie an, zeigt auf sie: „Das sind meine Brüder und Schwestern“. - Da sein! Drinnen sein – im Kreis bei Jesus.

Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass mehr da sind, um sich berühren, anrühren zu lassen. Gut, ich bin nicht Jesus. Aber ich habe seine gute Nachricht, die verändert und unser Leben heilt. Unsere Kirche hat 600 Plätze. Wenn jeder Zehnte aus unserer Gemeinde zum Gottesdienst kommt, rücken wir ein bisschen zusammen und alle haben Platz. Mich dauert es, dass oft so wenige drinnen sind und so viele draußen.

Und da sind die, die draußen sind und gar nicht reinwollen: Jesu Mutter und seine Brüder. Sie wollen Jesus in ihren Kreis zurückholen. Sie wünschen sich, dass Jesus wieder ganz einer der Ihren wird: der Sohn Marias und der Bruder seiner Geschwister. Das, was Jesus, den Menschen „drinnen“ zum Gesandten und Heilsbringer, zum Sohn Gottes macht, erscheint den „draußen“ stehenden Angehörigen als „von Sinnen“. In ihren Augen ist er verrückt geworden.

Maria und den Brüdern Jesu fällt es schwer zu glauben, dass Jesus wirklich seit seiner Taufe Gottes Sohn ist: Jesus der wahre Mensch, dessen Mutter jeder kennt und Gottes Sohn, durch Gottes Geist berufen. Seine Familie kann es nicht akzeptieren, dass er als Glied ihrer Familie zugleich Gottes Sohn ist. Sie möchten ihn auf den historischen Jesus reduzieren, auf einen sittlich beispielhaften Menschen, als Vorbild tugendhaften und religiösen Lebens.

Die draußen sind, sehen in unserer Zeit in Jesus auch oft nur den reduzierten, historischen Jesus und nicht den Gottessohn. Für sie ist Jesus der soziale und politische Revolutionär, Helfer der Armen und Unterdrückten, der Jesus der Bergpredigt. Jesus, der zugleich Mensch und Gottes Sohn ist, das entspricht vielfach nicht neuzeitlicher Wunschvorstellungen von ihm. Wir sind ernstlich in der Gefahr, unser Christentum zu einer wundervollen Philosophie, zu einer starken Soziallehre zu machen - zu nichts weiter sonst. Jesus will aber der Heiland, unser Retter sein, der uns aus unserer Gottverlorenheit erlöst und den Riss zwischen Gott und den Menschen heilt.

Es ist eine „verrückte“ Botschaft, die Jesus hat. Eine Botschaft die weggerückt ist von dem, was Menschen der Welt denken und glauben. Damals und heute. Es ist eine Botschaft, die eine andere Perspektive hat, einen anderen Blick auf die Menschen und auf ihr Leben. Eine Perspektive, die Dinge für möglich hält, die der Welt unmöglich erscheinen. Es ist die Nachricht der bedingungslosen Liebe Gottes zu den Menschen, die ihn am Ende ans Kreuz bringt. Eine verrückte Perspektive, dass der, der die Macht im Himmel und auf Erden hat, für andere am Kreuz stirbt. Sich opfert für die, die ihn anspucken und misshandeln, die taube Ohren haben für sein Wort der Rettung. Der Welt ist es eine Torheit, uns aber ist es eine Gotteskraft.

Es war meine Aufgabe und es bleibt meine Lebensaufgabe, den Blick auf diese verrückte Perspektive anderen zu öffnen und zu zeigen. Dafür einzustehen, den Samen zu legen und zu bezeugen, dass wir geliebt sind – von Gott geliebt sind, unverbrüchlich, unverdient – aus Gnade.

Die einen sind drinnen, und die anderen sind draußen. Ich bin mir da nicht immer sicher, wer drinnen und wer draußen ist. Das wird Gott am Ende der Tage selbst entscheiden.

Für mich hat drinnen sein und draußen sein, in den Tagen des Abschieds auch noch eine etwas andere Bedeutung.

Viele Jahre war ich drinnen. Begonnen hat es, nach meiner Konfirmation vor 50 Jahren, als ich von meinem Konfirmator behutsam, aber bestimmt, auf die Orgelbank geschoben wurde. Von da an hieß es für mich: Drinnen sein, dort wo die Entscheidungen fallen, wo überlegt und geplant wird. Dort, wo die Nöte und die Freuden einer Gemeinde zusammentreffen. Dort, wo die Gedanken geboren werden, wie es mit einer Gemeinde weitergehen soll, welche Entscheidungen für ihre Zukunft nötig sind.

In ein paar Tagen, wenn ich mein Büro geräumt habe, gebe ich meinen Hauptschlüssel ab, dann bin ich draußen – wie alle anderen. Dann komme ich nirgendwo mehr selbst hinein. – Ein komisches Gefühl, an das ich mich erst gewöhnen muss. Und doch, es bleibt meine Gemeinde - und ich bin drinnen. Es bleibt mein Glaube, der mich ganz nah zu Jesu Füßen sitzen lässt, mich zum Zuhörer macht – und ich bin drinnen. Zuhören auf das, was er zu sagen hat: Im Gebet und in der täglichen stillen Zeit – bei ihm drinnen zu seinen Füßen sitzen. Meine Berufung in den hauptamtlichen Dienst endet, nicht aber meine Berufung in die Nachfolge Jesu. Ich bleibe Diakon auf Lebenszeit – ich bleibe drinnen.

Noch ein paar persönliche Worte.
1967 habe ich das Haus meiner Familie verlassen, um dem deutlichen Ruf Gottes zu folgen und mich zurüsten zu lassen für den hauptamtlichen Dienst im Reich Gottes. Es war von Anfang an ein klarer Weg, hin zu den Menschen, zu Kindern, die nicht mehr in ihren Familien leben konnten, zu Kranken, die gewaschen und gebadet werden mussten, die Pflege und liebevolle Zuwendung brauchten. Hin in verschiedene Gemeinden, zum Lob Gottes, hin alten Menschen, zu Trauernden und Sterbenden, zu Konfirmanden und Religionsunterricht, zu Paaren, die heiraten wollten.

Ich durfte in all den Jahren und in den verschiedensten Aufgaben viel dazulernen, oft unter Tränen an mir arbeiten, weil ich nicht so war, wie ich sein wollte – weil ich versagt hatte. Manches ist gelungen, manches habe ich versäumt. Von Herzen schmerzt mich, wo ich an anderen schuldig geworden bin und das lösende Wort nicht gesucht oder gefunden habe. Ich lege es vor Gott und dieser Gemeinde hin und bitte um Vergebung. Aber ich bin dankbar für den Weg, den Gott mich geführt hat. Ich bin dankbar für die guten und schweren Zeiten. Am meisten hat mich der Verlust meiner Gisela getroffen, die mir, trotz ihrer eigenen Bedürftigkeit, große Stütze und Halt war, weil ich sie immer mit ihren Gebeten hinter mir wusste.

Ich bin Gott dankbar für Cristin, die mit viel Glauben und großer Liebe den Weg mit mir weitergeht. Dankbar bin ich für die Gemeinde hier, die mich vom ersten Tage angenommen und in den dunklen Stunden durchgetragen hat. Dankbar bin ich für meine Kollegen, ganz besonders für Ute, die mit mir gemeinsam vor acht Jahren in den Dienst bei St. Paul eingeführt wurde. Dankbar bin ich für Martin, für seine Ermutigungen und so manches erquickende Gespräch über unseren Glauben und den Weg unserer Gemeinde. Dankbar bin ich für Siegfried, dem stillen Diener, hier, in der Kirche, und drüben im Gemeindehaus, der mir, zusammen mit seiner Familie, immer ein guter Freund und Begleiter war. Ich kann mit großer Dankbarkeit auf St. Paul zurückblicken und das, was mich mit Zorn erfüllt, das soll bei Gott, in seiner Vergebung Frieden finden.

Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. So endet der heutige Predigttext und so endet auch meine Predigt. In diesem Sinne habe ich viele Brüder und Schwestern hier, in dieser Gemeinde, aber auch an den andern Orten in Bayern gefunden. Wir werden uns wieder im Gottesdienst sehen und irgendwo sonst über den Weg laufen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.