20130805

Martin Adel: Welche Beziehung haben wir zum Judentum

04.04.2013 - 10. Sonntag nach Trinitatis
Predigttext: 4,19-26


Wochenspruch: Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat.

Liebe Gemeinde,
mit dem heutigen Predigttext in Verbindung mit den Worten aus dem Römerbrief wollen wir uns einem Thema nähern, das für uns Christen und noch dazu als Deutsche kein leichtes ist.
Die Frage: Welche Beziehung haben wir zum Judentum.

1. Vorwort
Dass wir Deutschen eine gestörte Beziehung zum Judentum haben, das muss ich nicht näher erwähnen. Nach dem Holocaust mit seiner widermenschlichen Ausrottungssystematik fällt eine normale Begegnung schwer. Das bunte jüdische Leben ist aus unserem Alltag fast komplett verschwunden und die Öffentlichkeit wird dann plötzlich über die scheinheilige Beschneidungsfrage in zwei Lager gespalten unter der Frage: Ob das Judentum und der Islam nicht doch grausam und kinderfeindlich sind. Dass in unserem Land jährlich über 100.000 Kinder abgetrieben werden und ungeborenen behinderten Kinder fast systematisch das nicht Lebensrecht verweigert wird – betrachten wir als Akt der Freiheit und der Selbstbestimmung.
Aber das ist ein anderes Thema.
Mit dem Judentum haben wir so gut wie keine Berührungspunkte. Wir kennen vielleicht noch ein paar Rabiner- oder Judenwitze, wollen endlich mal die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen und leiden vielleicht noch an dem anscheinend unlösbaren Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser im Land Israel, dem Existenzkampf zweier Völker um ihren Ort und ihre Heimat.

Der Film: „Wir weigern uns Feinde zu sein“ ist dabei sehenswert, auch wenn er von einer gewissen Parteilichkeit geprägt ist. Doch er zeigt gute Wege zum Verstehen und zur Versöhnung auf.

Wenn wir im Glauben auf das Judentum sehen, dann sollten wir die Politik außen vorlassen. Und wenn wir uns von Christus ansprechen lassen, dann wird uns das zu einem verstehenden und versöhnlichen Umgang, vielleicht sogar mit zu einem familiären Umgang mit dem Judentum führen in christlicher Freiheit.

2. Das Heil ist von den Juden
Es ist kein Zufall, dass Christus Jude ist. Dem Volk Israel ist die Verheißung für den Messias gegeben. Und deshalb kommt er als Messias für das Volk Israel - Gottes Volk. Und er ist dabei die Verheißung des Heils für die ganze Welt. Und hier wird sie geboren. Diese Verheißung. In Bethlehem. In Jesus von Nazareth, dem Christus. Und deshalb sind wir in tiefer Weise mit dem Judentum verbunden, auch wenn uns das oft schwer fällt. Und im Blick auf die Geschichte haben sich die Christen im Umgang mit den Juden nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

Paulus schreibt: Wir sind hineingepfropft auf den Stamm und in die Wurzel, die schon vor uns bestand.
Röm 11,16-24 (Gute Nachricht)
Das Bild vom Ölbaum – eine Warnung an Christen
16 Wenn das erste Brot von der neuen Ernte Gott geweiht worden ist, gilt alles Brot von dieser Ernte als geweiht. Wenn die Wurzeln des Baumes Gott geweiht sind, sind es auch die Zweige. 17 Nun sind einige Zweige an dem edlen Ölbaum ausgebrochen worden, und unter die übrigen wurdet ihr als neue Zweige eingepfropft. Obwohl ihr von einem wilden Ölbaum stammt, habt ihr jetzt Anteil an den guten Säften des edlen Ölbaums. 18 Darum überhebt euch nicht über die Zweige, die ausgebrochen wurden. Ihr habt keinen Grund, euch etwas einzubilden! Nicht ihr tragt die Wurzel, sondern die Wurzel trägt euch.
19 Ihr werdet vielleicht sagen: »Die Zweige sind ausgebrochen worden, um uns Platz zu machen!« 20 Gewiss, aber sie wurden ausgebrochen, weil sie nicht glaubten. Und ihr gehört nur dazu, weil ihr glaubt – und wenn ihr im Glauben beharrt. Seid also nicht überheblich, sondern bedenkt, mit wem ihr es zu tun habt! 21 Wenn Gott schon die Juden nicht verschont hat, obwohl sie die natürlichen Zweige sind, dann wird er euch bestimmt nicht verschonen.
22 Ihr seht hier die Güte und zugleich die Strenge Gottes. Streng ist er zu denen, die sich von ihm abwenden. Gütig ist er zu euch – wenn ihr euch nur bewusst bleibt, dass ihr allein von seiner Güte lebt; sonst werdet ihr auch ausgehauen. 23 Aber auch die Juden werden wieder eingepfropft, wenn sie die Einladung zum Glauben nicht länger abweisen. Gott hat sehr wohl die Macht dazu. 24 Er hat euch als Zweige eines wilden Ölbaums ganz gegen die natürliche Ordnung in den edlen Ölbaum eingepfropft. Dann kann er erst recht die Juden als die natürlichen Zweige wieder in ihren eigenen Baum einpfropfen.


Natürlich deuten wir das Alte Testament anders und Gott ist für uns nur als dreieiniger-Gott vorzustellen. Aber es war Gottes Wille und er hat sich dabei etwas gedacht, sich aus dem Judentum heraus zu zeigen und sich über die Grundlage der Thora verstehbar zu machen. Als Messias für Israel tritt Jesus ins Leben, auch wenn er nur von wenigen Juden erkannt wurde. Doch die Männer und Frauen um ihn waren Menschen jüdischen Glaubens. Und von ihrem jüdischen Glauben her, haben sie Jesus als Messias, als den Christus erkannt und bekannt. Sie verstehen und begreifen, was Gott im Alten Testament verheißen hat und sehen nun die Erfüllung dieser Verheißungen: „Frieden und Gerechtigkeit. Die Besiegung von Krankheit und Tod. Nicht für alle, aber sichtbar, punktuell schon gelebt und erlebt. Aller Gewalt und Vernichtung zum Trotz.“
Die Liebe Gottes spüren sie, die sie aufrichtet und ausrichtet und sie zu Zeugen macht vom bereits angebrochenen Reich Gottes für die kommende Welt. Dass sich daraus ihre Haltungen, ihre Lebensgebräuche, ihre religiösen Traditionen, ihre Gottesdienste verändert haben, ist eigentlich nur konsequent und logisch. So wie sich ja auch unsere Lebenshaltungen und religiösen Traditionen unterscheiden von den Menschen, die einen anderen Glauben pflegen oder keinen Glauben haben.
Doch wir müssen uns fragen lassen, ob das für uns eine Mühsal oder ob es für uns eine Freude ist, dass wir mit dem Judentum gemeinsam eine Wurzel haben und wir uns sogar das Alte Testament oder das 1. Testament miteinander teilen.

In unserem Predigttext von der Frau am Jakobsbrunnen wird es dann heißten: Das Heil ist von den Juden. Und das bedeutet für uns: Wenn wir uns unserer jüdischen Wurzeln beschneiden, vertrocknen wir, denn hier ist bereits angelegt, was Gott dann für uns vollendet. Der Anspruch Gottes im Alten Testament ist bereits global und universal. Die ganze Welt. Der ganze Kosmos. Von Gott geschaffen. Nicht nur für die Juden, sondern für uns alle. Gott, der Herr der Welt.

Und in Jesus Christus befreit er dieses Wort von konkreten Orten und klein kariertem Denken. In Christus führt uns Gott in seine universale Freiheit, wenn wir den Predigttext hören:

Predigttext – Johannes 4, 19-26 (Gute Nachricht)
19 »Herr, ich sehe, du bist ein Prophet«, sagte die Frau.
20 »Unsere Vorfahren verehrten Gott auf diesem Berg. Ihr Juden dagegen behauptet, dass Jerusalem der Ort ist, an dem Gott verehrt werden will.«
21 Jesus sagte zu ihr: »Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, da werdet ihr den Vater weder auf diesem Berg noch in Jerusalem anbeten. 22 Ihr Samariter betet zu Gott, aber ihr kennt ihn nicht; doch wir kennen ihn, denn die Rettung für alle Menschen ist von den Juden. 23-24 Aber die Stunde kommt, ja sie ist schon gekommen, da wird der Heilige Geist, der Gottes Wahrheit enthüllt, Menschen befähigen, den Vater an jedem Ort anzubeten. Gott ist ganz anders als diese Welt, er ist machtvoller Geist, und alle, die ihn anbeten wollen, müssen vom Geist der Wahrheit erfüllt sein. Von solchen Menschen will der Vater angebetet werden.«
25 Die Frau sagte zu ihm: »Ich weiß, dass der Messias kommen wird, der versprochene Retter. Wenn er kommt, wird er uns alles sagen.«
26 Jesus antwortete: »Er spricht mit dir; ich bin es.«


Die Messiaserwartung am Ende der Tage ist geklärt.
Ich bin es.
Mit diesen Worten endet unsere Perikope.
Ich bin der Messias.
Und was das bedeutet, können wir bereits an seinem Leben sehen. In seinem Reden und Tun sehen wir, wie das Reich Gottes ist.

a. Er spricht mit einer Frau
Für einen orthdoxen Juden gehört sich das nicht, eine fremde Frau anzusprechen und dann auch noch eine „Ungläubige“ – eine aus Samaria.
In der Mittagshitze hat sie sich an Brunnen gewagt, weil wahrscheinlich in der Dorfgemeinschaft einen ausgegrenzten Status hatte: Fünfmal war sie bereits verheiratet – und nun lebt sie in wilder Ehe mit einem Mann zusammen.

b. Doch Jesus begegnet ihr auf Augenhöhe.
Er bittet sie um Wasser und ihre Fragen nimmt er ernst. Und wir merken schon: Ich werde nicht nach meiner Nase selig werden, sondern geleitet und geführt durch sein Wort und durch seinen Geist kommt uns das Heil entgegen.

c. Und dann stellt sie die Frage:
20 »Unsere Vorfahren verehrten Gott auf diesem Berg. Ihr Juden dagegen behauptet, dass Jerusalem der Ort ist, an dem Gott verehrt werden will.«

Und wieder ist ER es, der unsere Begrenztheiten durchbricht und auflöst:
21 Jesus sagte zu ihr: »Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, da werdet ihr den Vater weder auf diesem Berg noch in Jerusalem anbeten. 22 Ihr Samariter betet zu Gott, aber ihr kennt ihn nicht; doch wir kennen ihn, denn die Rettung für alle Menschen ist von den Juden. 23-24 Aber die Stunde kommt, ja sie ist schon gekommen, da wird der Heilige Geist, der Gottes Wahrheit enthüllt, Menschen befähigen, den Vater an jedem Ort anzubeten. Gott ist ganz anders als diese Welt, er ist machtvoller Geist, und alle, die ihn anbeten wollen, müssen vom Geist der Wahrheit erfüllt sein. Von solchen Menschen will der Vater angebetet werden.«

Hier spricht der Messias und er lebt es vor. Der Ort ist nicht das Entscheidende. Orte sind gut und wichtig. Und es ist gut, dass wir unsere Paulskirche haben, in der wir Gottesdienst feiern können. Ein sakraler, heiliger Ort – doch wenn er im Krieg vorübergehend zum Möbellager für ausgebombte Familien wurde, dann ist er damit nicht entweiht, sondern bestätigt nur seine heilsame Aufgabe.
Jesus wendet unseren Blick weg vom Äußeren Hin zum Inneren. Und so befreit er den Gottesdienst von einem zentralen Kultus in Jerusalem und übergibt ihn in die Hände seiner Gemeinde, in die Familien, in die Synagogen, in die Wohnzimmer, in die Gemeindehäuser und Kirchen. Der konkret Ort und unsere Kirchen sind nicht gering zu achten, aber wichtig ist und bleibt dabei die innere Ausrichtung:
23-24 Aber die Stunde kommt, ja sie ist schon gekommen, da wird der Heilige Geist, der Gottes Wahrheit enthüllt, Menschen befähigen, den Vater an jedem Ort anzubeten. Gott ist ganz anders als diese Welt, er ist machtvoller Geist, und alle, die ihn anbeten wollen, müssen vom Geist der Wahrheit erfüllt sein. Von solchen Menschen will der Vater angebetet werden.

Und Martin Luther schreibt in seiner Torgauer Schlosspredigt nichts anderes für seine reformatorischen Gemeinden in Not:
(Broschüre S.19) „So uns der Sabbat oder der Sonntag nicht gefällt, mögen wir den Montag oder einen anderen Tag in der Woche nehmen und einen Sonntag daraus machen … Kann es nicht geschehen unterm Dach oder in der Kirche, so geschehe es auf einem Platz, unter dem Himmel oder wo Raum dazu ist.“


Die äußere Form ist bisweilen wichtig, aber sie kann die innere Haltung nicht ersetzen. Und das haben die Menschen in Jesu Nachfolge gesehen. Die, die sich seinem Wort aussetzen kommen zu einer Freiheit der Kinder Gottes, die in einer großen Offenheit und Versöhnung mündet. Und Paulus schreibt deshalb: Hier ist weder Jude noch Grieche, weder Freier von Sklave, denn wir sind alle eins in Christus.

Doch bis heute haben wir damit große Schwierigkeiten. Nicht nur die Juden. Auch wir Christen. Bis heute gibt es ja auch in unseren Gemeinden die großen, zweifelnden Fragen: Ob es den gilt. Und wer uns den beweist, dass dieser Jesus der Christus ist.
Wir trauen dem punktuellen und einzelnen Erleben nicht zu, dass es bereits sichtbar von dem Verkündet, was einst für alle gelten wird. „Blinde sehen, lahme gehen und Armen wird das Evangelium verkündigt.“ Doch die Jünger und die Frauen um Jesus, seine Gemeinde, haben in IHM gesehen, dass es gilt. Schon jetzt. Und sie wollten selbst in der Nachfolge ein Zeichen setzen von der Lebensveränderung, die sie in der Begegnung mit dem Messias erlebt haben. Sie wurden von Wartenden zu Empfangenden. Und während die Frau zu ihm sagt:
»Ich weiß, dass der Messias kommen wird, der versprochene Retter. Wenn er kommt, wird er uns alles sagen.« 26 Jesus antwortete: »Er spricht mit dir; ich bin es.«

Der Israelsonntag führt uns zurück in die große innere Nähe, die wir mit dem Judentum haben. In unseren Wurzeln sind wir miteinander verbunden. Wir können den erwarteten Messias nur vom Alten Testament her verstehen. Und erkennen in dem gekommenen Christus, dass Gott sein Wort erfüllt hat.

Auf dieser Grundlage wird uns dann noch einmal der schmerzhafte Verlust jüdischen Lebens in unserer Mitte deutlich und die große Schuld unserer Vergangenheit bewusst.
Doch als mit Gott versöhnte dürfen wir den Neuanfang wagen und das Gespräch suchen. Behutsam wartend, wo uns die Hand gereicht wird und verstehend, wenn das Misstrauen noch überwiegt.
Und hoffentlich sind wir neugierig, was wir, die wir nachträglich auf die gute Wurzel gepfropft wurden, in der Begegnung mit dem Judentum von ihrem Verstehen des Wortes Gottes lernen können.

Amen

Broschüre: Das Heil ist von den Juden – Begegnung von Christen und Juden in Bayern (BCJ.Bayern) u.a. Volker Haarmann und Ursula Rudnick Arbeitshilfe zum Israelsonntag 2013

Martin Adel: Wer ist schuld?

21.07.2013 - 8. Sonntag nach Trinitatis
Predigttext Johannes 9,1-7


Liebe Gemeinde.
Die Begegnung mit Gottes Wort ist immer Menschenschulung. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass sich Jesus gerade mit denen auseinandersetzt, die mit dem Wort Gottes schon fertig sind und immer schon wissen, was sein kann und was nicht sein darf.
So steht es im Johannesevangelium, im 9. Kapitel. Ich verwende die Übersetzung der guten Nachricht. Joh 9,1-2
1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?
Eine typische Frage: Wer ist schuld? Wer hat hier gesündigt? Ist das nicht furchtbar. Es klingt so selbstverständlich, diese Frage. Da muss doch einer schuld sein. Wer hat gesündigt – er oder seine Eltern?
Wir kennen diese Frage auch umgekehrt: Warum gerade ich? Ich habe doch immer alles befolgt. Warum gerade der, der war doch so ein guter Mensch.
Da geht es auch um Schuld.
Aber was bringt dieses Fragen?
Wären wir ein Stück weiter, wenn Jesus sagen würde: Der Blinde hat gesündigt oder seine Eltern, und darum muss er für immer blind bleiben und sein Brot durch Betteln verdienen. Es geschieht ihm doch Recht. Und ich bin aus der Schuld, ihm zu helfen. Geht es darum?
Welch ein bitterer Zynismus, mit dem wir immer wieder das Leben einteilen und zuteilen wollen. Und hoffentlich geschieht uns nicht einmal Recht und wir werden nach diesem Maßstab gemessen und keiner ist da, der mich als Mensch sieht, sondern nur als Sünder und achtlos an mir vorbeigeht.

Joh 9,3-5
3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.
Jesus spricht hier nicht vom Glauben und auch nicht von der Schuld, sondern er spricht von Gott. Von Gottes Macht und von den Taten Gottes. Der andere ist kein Ding, irgendetwas, reduziert auf seine Schuld, sondern ein Mensch, ein Geschöpft Gottes und darum kommt er in den Blick. Den Sünder kann ich wegschieben, den Menschen nehme ich war. Und er wird mir zum Auftrag und zur Aufgabe: „Solange es Tag ist, müssen wir die Taten Gottes vollbringen“ heißt es in der guten Nachricht. Christus ist das Licht der Welt, und darum ist es unsere Aufgabe, von diesem Licht zu erzählen, das seinen Platz dort hat, wo der Blinde leidet; und zwar nicht so sehr an seinem Blindsein, sondern an seiner Ausgrenzung und Aburteilung.

Und weiter heißt es hier: Joh 9,6-7
6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden.
7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Wir wollen uns nicht länger bei diesem Wunder aufhalten – bei dem manche fromme Geister sogar noch meinen, wenn sie es „nachspielen“, könnte Blinden geholfen werden. Der Blinde kann wieder sehen. Das ist das Entscheidende. Er ist gesund. Er ist geheilt. Gott sei Lob und Dank dafür.
Aber was wir nun weiter hören sind die menschlichen Untiefen, in die uns Johannes hineinführt. Wie mit dem Skalpell trennt er es uns heraus – seht, so ist der Mensch: So bist Du! So bin ich! Und hoffentlich erschrecken wir.

Nun kommen die Nachbarn und die Leute: Joh 9,8-14
8 Die Nachbarn nun und die, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sprachen: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? 9 Einige sprachen: Er ist's; andere: Nein, aber er ist ihm ähnlich. Er selbst aber sprach: Ich bin's. 10 Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen aufgetan worden? 11 Er antwortete: Der Mensch, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen und sprach: Geh zum Teich Siloah und wasche dich! Ich ging hin und wusch mich und wurde sehend. 12 Da fragten sie ihn: Wo ist er? Er antwortete: Ich weiß es nicht.
13 Da führten sie ihn, der vorher blind gewesen war, zu den Pharisäern. 14 Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Brei machte und seine Augen öffnete.
Freut sich hier jemand, dass er wieder sehen kann? Nein! Es wird gezweifelt: Ob man denn seinen Augen trauen darf. Es wird genau erforscht, ob es denn auch mit rechten Dingen zugegangen ist. Da muss doch ein Haar in der Suppe sein. Das ist alles suspekt, das müssen die Fachleute entscheiden.
Und schon geht es weiter. Und sehen wir genau hin – hier spielt sich immer wieder auch unsere Geschichte ab: Joh 9,15-23
15 Da fragten ihn auch die Pharisäer, wie er sehend geworden wäre. Er aber sprach zu ihnen: Einen Brei legte er mir auf die Augen, und ich wusch mich und bin nun sehend.
16 Da sprachen einige der Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es entstand Zwietracht unter ihnen. 17 Da sprachen sie wieder zu dem Blinden: Was sagst du von ihm, dass er deine Augen aufgetan hat? Er aber sprach: Er ist ein Prophet.
18 Nun glaubten die Juden nicht von ihm, dass er blind gewesen und sehend geworden war, bis sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden war, 19 und sie fragten sie und sprachen: Ist das euer Sohn, von dem ihr sagt, er sei blind geboren? Wieso ist er nun sehend? 20 Seine Eltern antworteten ihnen und sprachen: Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist und dass er blind geboren ist. 21 Aber wieso er nun sehend ist, wissen wir nicht, und wer ihm seine Augen aufgetan hat, wissen wir auch nicht. Fragt ihn, er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden.
22 Das sagten seine Eltern, denn sie fürchteten sich vor den Juden. Denn die Juden hatten sich schon geeinigt: wenn jemand ihn als den Christus bekenne, der solle aus der Synagoge ausgestoßen werden. 23 Darum sprachen seine Eltern: Er ist alt genug, fragt ihn selbst.

Und noch einmal: Wird da Gott gelobt?
Mißtrauen, Angst und Unentschiedenheit. Das kann nicht sein. Da muss irgendwo Schuld sein. Das war schon immer so. Wir haben die Bibel studiert. Wir wissen es. Schlimm, wenn Glaube Angst macht und sich der andere nichts mehr sagen traut.
Der einzige, der hier frei herausspricht, ist der Schwächste, der Kranke, der Blinde. Der, der geheilt ist: Joh 9,24-33
24 Da riefen sie noch einmal den Menschen, der blind gewesen war, und sprachen zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist. 25 Er antwortete: Ist er ein Sünder? Das weiß ich nicht; eins aber weiß ich: dass ich blind war und bin nun sehend. 26 Da fragten sie ihn: Was hat er mit dir getan? Wie hat er deine Augen aufgetan? 27 Er antwortete ihnen: Ich habe es euch schon gesagt und ihr habt's nicht gehört! Was wollt ihr's abermals hören? Wollt ihr auch seine Jünger werden? 28 Da schmähten sie ihn und sprachen: Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses Jünger. 29 Wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat; woher aber dieser ist, wissen wir nicht.
30 Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen: Das ist verwunderlich, dass ihr nicht wisst, woher er ist, und er hat meine Augen aufgetan. 31 Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht erhört; sondern den, der gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er. 32 Von Anbeginn der Welt an hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe. 33 Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun.


Vielleicht haben wir es schon geahnt. Den am Schluss steht das, was eigentlich schon vorher klar war: Joh 9,34
34 Sie antworteten und sprachen zu ihm: Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns? Und sie stießen ihn hinaus.

Warum ist der Mensch so? Warum neigen wir zu so einem Verhalten? Da geschieht etwas wunderbares, und anstatt Freude entsteht Mißtrauen und Mißgunst und Angst. Und es wird solange herumgezerrt, bis wir das wissen, was wir schon vorher wußten. Joh 9,34 „Du bist ja schon von deiner Geburt her ein ausgemachter Sünder, und dann willst du uns belehren?“ Und sie warfen ihn hinaus.

Sind wir wirklich so blind, dass wir in unserer Verbohrtheit nicht mehr wahrnehmen, wo Gott am Werk ist. Welche fromme Anmaßung, Gott vorzuschreiben, wo und wann und wie er sich zu zeigen hat und wo nicht.
Muss sich Gott an unsere Regeln halten oder haben nicht wir von ihm den eigentlichen Rahmen, nämlich seine Ordnungen gesetzt bekommen?
Wer sitzt da im Regiment?

Und Jesus setzt sich dagegen, wenn hier steht: Joh 9,35-41
35 Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn? 36 Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's?, dass ich an ihn glaube. 37 Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's. 38 Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.
39 Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden. 40 Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? 41 Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.

Wir werden nicht weiterkommen, wenn wir uns über die Zuteilungen von Schuld und Sünde die Welt und den anderen und uns selbst zurecht erklären wollen. In Schafe und Böcke teilt Gott auf, nicht wir. Und wo wir einst stehen werden, werden wir dann sehen.
Doch solange es noch nicht soweit ist, haben wir noch eine Chance und einen ganz anderen Auftrag: Auch wir müssen die Taten Gottes vollbringen, solange es Tag ist … und damit Gott loben und preisen.
Und das bedeutet:
Der Blinde wird mir zum Nächsten und mir zur Aufgabe. Die Not des anderen geht mich etwas an. Und ich werde mich mitfreuen, wo ein Mensch gesund wird und ich werde mitleiden, wo ein Mensch leidet, selbst dann, wenn er es selbst verschuldet hat.
Unser Auftrag ist nicht die Rache, denn die macht blind. Unser Auftrag ist die Liebe, weil Gott die Liebe ist und Christus das Licht der Welt. Er ist unser Licht und darum stehen wir in seinem Licht. Und darum kann Paulus an die Gemeinde in Ephesus schreiben: Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Amen.