20101103

Werner Otto Sirch: Christus Herr über Lebende und Tote

7.11.2010 - Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
Predigt Römer 14, 7-9

Liebe Gemeindeglieder,
liebe Schwestern und Brüder in Christus,

Von der großen Eiche am Wiesenrand fiel das Laub. Es fiel von allen Bäumen. Ein Ast der Eiche stand hoch über den anderen Zweigen und ragte weit hinaus zur Wiese. An seinem äußersten Ende saßen zwei Blätter zusammen.
„Es ist nicht mehr wie früher“, sagte das eine Blatt. „Nein“, erwiderte das andere. „Heute Nacht sind wieder so viele von uns davon … wir sind beinahe schon die einzigen hier auf unserem Ast.“
„Man weiß nicht, wen es trifft“, sagte das erste. „Als es noch warm war und die Sonne noch Hitze gab, kam manchmal ein Sturm oder ein Wolkenbruch, und viele von uns wurden damals schon weggerissen, obgleich sie noch jung waren. Man weiß nicht, wen es trifft.“
„Jetzt scheint die Sonne nur selten“, seufzte das zweite Blatt, „und wenn sie scheint, gibt sie keine Kraft. Man müsste neue Kräfte haben.“
„Ob es wahr ist“, meinte das erste, „ob es wohl wahr ist, dass an unserer Stelle andere kommen, wenn wir fort sind, und dann wieder andere und immer wieder…“
„Es ist sicher wahr“, flüsterte das zweite, „man kann es gar nicht ausdenken… es geht über unsere Begriffe…“ „Und man wird auch noch traurig davon“, fügte das erste hinzu.
Sie schwiegen eine Zeit. Dann sagte das erste still vor sich hin: „Warum wir wohl weg müssen…?“ Das zweite fragte: “Was geschieht mit uns, wenn wir abfallen…?“
„Wir sinken hinunter…“
„Was ist da unten?“
Das erste antwortete: „Ich weiß es nicht. Der eine sagt das, der andere dies… aber niemand weiß es.“
Das zweite fragte: „Ob man noch etwas fühlt, ob man noch etwas von sich weiß, wenn man dort unten ist?“ Das erste erwiderte: „Wer kann das sagen? Es ist noch keines von denen, die hinunter sind, jemals zurückgekommen, um davon zu erzählen.“
Wieder schwiegen sie. Dann redete das erste Blatt zärtlich zum anderen: „Gräme dich nicht zu sehr, du zitterst ja.“
„Lass nur“, antwortete das zweite, „ich zittere jetzt so leicht. Man fühlt sich eben nicht mehr so fest an seiner Stelle.“
„Wir wollen nicht mehr von solchen Dingen sprechen“, sagte das erste Blatt. Nun schwiegen sie beide. Die Stunden vergingen. Ein nasser Wind strich kalt und feindselig durch die Baumwipfel.
„Ach… jetzt…“ sagte das zweite Blatt, „…ich…“ Da brach ihm die Stimme. Es ward sanft von seinem Platz gelöst und schwebte hernieder. – Nun war es Winter.


Liebe Gemeindeglieder, gerade jetzt in den grauen und kalten Tagen gehen meine Gedanken immer wieder hin zum eigenen Sterben. Ich denke, es geht vielen die im Herbst des Lebens sind so. Wir denken darüber nach, was dann sein wird: Was wird mich erwarten, wenn meine Lebenszeit abgelaufen ist? Wo werde ich sein? Wie werde ich mich selbst erleben – so wie das zweite Blatt gefragt hat: „Ob man noch etwas fühlt, ob man noch etwas von sich weiß, wenn man dort unten ist?“ Werden dort die sein, die ich geliebt habe, die mich geliebt haben? Werden wir uns erkennen?
Eine französische Karmeliterin hat kurz vor ihrem Sterben ihre Gedanken in einem Gedicht zusammengefasst. Sie hat es überschrieben:

Eine Liebe erwartet mich
Was auf der anderen Seite passieren wird,
wenn alles für mich
in die Ewigkeit gestürzt sein wird,
das weiß ich nicht.
Ich glaube, ich glaube allein,
dass eine Liebe mich erwartet.

Zwar weiß ich, dass es dann für mich
arm und ohne Gewicht darum geht
meine Bilanz abzuschließen
Aber denkt nicht, dass ich verzweifeln werde.
Ich glaube, ich glaube so sehr,
dass eine Liebe mich erwartet!

Das, was ich geglaubt habe, werde ich noch fester glauben
beim Schritt in den Tod.
Es ist eine Liebe,
auf die ich zugehe im Schreiten;
Es ist eine Liebe,
in die ich sanft hinabsteige.

Wenn ich sterbe, weint nicht;
Es ist eine Liebe, die mich nimmt.
Wenn ich Angst habe, und warum nicht? -
Erinnert mich einfach,
dass eine Liebe, eine Liebe mich erwartet.

Sie wird mich ganz öffnen
für ihre Freude, ihr Licht.
Ja Vater, ich komme zu Dir.
In dem Wind,
von dem man nicht weiß, woher er kommt und wohin er geht,
zu Deiner Liebe, Deiner Liebe, die mich erwartet.


Unser Predigttext steht im Römerbrief im 14 Kapitel:
7 Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
8 Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.
9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.


Ein bekannter Text, den ich bei fast jeder Beerdigung am Friedhof spreche. Er lenkt unsere Gedanken hin auf Christus, ohne den wir nicht leben und nicht sterben können. Ohne Jesus sind wir lebendig tot. Für sich selbst leben, das ist die typische Art unseres fleischlichen Wesens. Es scheint so vernünftig, so aussichtsreich, so beglückend „für sich selbst zu leben“. Niemandem Rechenschaft zu schulden, auch sich selbst nicht. Und es ist doch Armut und Elend und endet in dem düsteren, leeren, grauenhaften „Sterben für sich selbst“. Jesus hat uns aus diesem „für sich selbst sterben“ erlöst. Nicht nur in unseren Gedanken oder in den Akten eines himmlischen Gerichtshofes.

Leben wir, so leben wir dem Herrn! Als Nachfolger Jesu, als die, die auf seinen Namen getauft sind und ihr Leben ihm anvertraut haben, gibt es für uns keine andere Möglichkeit mehr als mit unserem Herrn zu leben. Für uns ist das andere Leben tot – in dem wir nur für uns selbst leben. Es ist das Leben bevor Jesus bei uns eingezogen ist. Das Neue Leben ist die Folge unserer Entscheidung für ein Leben mit Jesus, zu dem wir von ihm gerufen und bekehrt wurden. Wir können nun nicht mehr für uns selbst leben, weil wir Jesus unser Leben anvertraut haben und ihm vertrauen, auf dessen Namen wir getauft sind.

Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Das kann ein Mensch sagen, der sein Leben mit Jesus gelebt hat, der gelernt hat ihm in allen Dingen zu vertrauen. Er weiß tief in seinem Herzen, dass Gott ihn nicht betrügen wird. Gott wird ihn nicht in einen ewigen Tod fallen lassen, in ein Nichts. Keiner von uns lebt für sich selbst und keiner stirbt für sich selbst. Bei allen Christen, auch bei den schwachen und unvollkommenen ist es so. Wir alle sind von Christus ergriffen. Wir leben für und mit Jesus. Darum sind wir im Sterben nicht mehr so schrecklich allein mit uns selbst.

Die Schriftstellerin Kristiane Albert-Wybranietz schriebt einmal:
Ich habe solche Angst zu sterben.
Aber damit verhindere ich nicht meinen Tod -
sondern behindere mein Leben.


Wir verdrängen in unserer heutigen Gesellschaft sehr gerne den Gedanken an den Tod. Wir haben es verlernt mit ihm zu leben, obwohl er uns an allen Ecken und Enden begegnet. Das Wissen darüber, dass unser Leben endlich ist blockiert uns, darum denken wir lieber nicht daran, setzten uns nicht mit unserem Sterben auseinander, denn wir fühlen uns durch den Tod in unserem Leben behindert. Wir verhindern den Tod nicht dadurch, dass wir ihn aus lauter Angst verleugnen. Aber wir behindern unser Leben, das mit jedem Tag ein Geschenk ist. Ein Geschenk dessen, der uns ins Leben gerufen hat und mit uns jeden Schritt unseres Lebens geht: Leben wir, so leben wir dem Herrn!

Es gibt aber auch ein Sterben in dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Dieses Sterben wird uns bei aller bleibenden Schwere des Sterbevorgangs trotzdem selig machen.

Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Paulus hat den Sterbenden nicht einfach in den Himmel, in die „Herrlichkeit“ versetzt. Auch Christen sind nach dem Sterben zunächst „Tote“, das heißt aber nicht „Nichtse“, sondern Angehörige des Totenreichs, aus dem sie bei der Auferstehung der Toten auferstehen, wenn Jesus die Seinen aus den Gräbern herausruft. Aber das ist für Christen keine dunkle und unheimliche Existenz. So wie der Israelit Lazarus „in Abrahams Schoß“ war im Totenreich, so gehören die, die für den Herrn lebten und starben, auch im Totenreich ihm und stehen auch dort ganz unter seiner gnädigen Herrschaft. Ja, sie sind dort anders und näher mit ihm zusammen. Sie sind bei Christus.

Wohl mir, dass ich JESUM habe,
o wie feste halt ich ihn,
dass er mir mein Herze labe,
wenn ich krank und traurig bin.
Jesum hab ich, der mich liebet
und sich mir zu eigen gibet,
ach, drum lass ich Jesum nicht,
wenn mir gleich mein Herze bricht.

Jesus bleibet meine Freude,
meines Herzens Trost und Saft.
Jesus wehret allem Leide.
Er ist meines Lebens Kraft.
Meiner Augen Lust und Sonne.
Meiner Seele Schutz und Wonne.
Darum lass ich Jesum nicht
aus dem Herzen und Gesicht.

Amen.

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